Von drei Knappinnen
Von drei Knappinnen
Beilunk, 12. Travia 1040 BF
„Erhebe Dich nun und werde erkannt, Ritterin Wesanka Grimmwulfe von Korswandt!“
Ardariel Nordfalk von Moosgrund hob den mächtigen Zweihänder Sturmrufer in die Höhe und die Umstehenden applaudierten kräftig.
Wesanka erhob sich und blickte sich um: Was für eine Gesellschaft war zusammengekommen, um ihrer Schwertleite beizuwohnen. Sie erblickte nicht nur ihre Mutter, die Gräfin von Misamund, sondern auch Herzog Bernfried von Ehrenstein und seinen Sohn Jarlak, den Grafen der Herzogsmark Tobimoria.
Ein schmucker Ritter, dachte Wesanka bei sich. Er hatte ebenfalls gerade seine Schwertleite erhalten und war dann gleich zum Grafen erhoben worden. Sie würde den zukünftigen Herzog Tobriens gut im Auge behalten. Wer mochte denn wissen, wie Rahjas Wege hier in Beilunk beschritten wurden. Sie blickte ihrer Schwertmutter in die Augen, und allein am Lächeln Ardariels konnte Wesanka ablesen, dass die Balihoerin ahnte, was ihr gerade durch den Kopf ging. Ihre Hand fiel auf den Knauf ihres neuen Schwertes, mit dem die Gräfin Balihos sie erst vor wenigen Augenblicken gegürtet hatte. Das Geschenk der Falkin des Nordens war ein herrlich austariertes Langschwert aus Ingrams Werkstatt, der Knauf war fein modeliert als Wolfskopf ausarbeitet.
Wesanka fühlte sich ein wenig betäubt, als sie die Gratulationen der Anwesenden entgegennahm und vor dem Herzog der tobrischen Lande das Knie beugte, um ihm ihre allumfassende Treue zu versichern. Bernfried lächelte leicht, neigte den Kopf und zog die junge Frau wieder auf die Beine. Mit anerkennenden Worten ließ sich der Herzog der Tobrier es sich nicht nehmen, Wesanka eigenhändig sein Gunstband an den Gürtel zu stecken, dass den doppelköpfigen Wolf zeigte. Mit weiteren anerkennenden Worten Bernfrieds reichte einer der herzoglichen Knappen Wesanka einen kostbaren Hirschfänger aus der Waffenkammer von Burg Drachenhaupt, den sie sogleich in ihr Schwertgehänge steckte. Sie verneigte sich tief und voller Dankbarkeit vor dem Herzog, der die Versammlung nach einem erneuten Nicken, vornehmlich in Richtung ihrer Schwertmutter, verließ. Auf einem Reichstag gab es viel für den Herrscher Tobriens zu besprechen.
Dann fühlte Wesanka eine leichte Hand auf ihrer Schulter und wandte sich um, nur um die lächelnde Lleara-Dhana von Yyoffrynn-Thama zu erkennen, die Baronin von Ilsur und ihre Vorgängerin als Knappin der Balihoer Gräfin. „Wohlgetan, Hochwohlgeboren. Aber es stand nichts anderes zu erwarten. Ich habe ebenfalls eine kleine Gabe für Euch, hier nehmt diese Phiole mit heiligem Wasser aus den Quellen von Ilsur. Das soll nur ein Pfand sein, dass Euch die heiligen Quellen immer offenstehen, solltet Ihr ihrer bedürfen.“
Lleara-Dhana lächelte, als sie Wesanka die kunstvolle Phiole, die an einer edlen silbernen Kette befestigt war und den Ilsurer Schwan zeigte, um den Hals hängte. „Ich bin sicher, dass Du jetzt allerdings deutlich weniger blaue Flecken haben wirst, als noch vor wenigen Wochen.“ Die goldgesprenkelten Augen der schlanken Baronin blitzen schalkhaft. „Ich danke Dir, das bedeutet mir einiges. Und ja, Du wirst Recht haben, wer sollte mich denn jetzt noch ungestraft mit einem Zweihänder über den Burghof scheuchen?“ Die beiden Ritterinnen lächelten und blickten zu ihrer Schwertmutter hinüber, die sich mit Liannen von Gobiansforst, der tobrischen Kanzlerin, unterhielt, ihren mächtigen Zweihänder Sturmrufer lässig in der Armbeuge haltend. Selbst hier, mitten in Beilunk, trug die Falkin des Nordens ihre Garether Platte. Lleara-Dhana und Wesanka nickten einander erkennend zu: „Sie wird eine neue Knappin annehmen! Und wieder wird es ein Wolfskind sein.“
Die beiden ließen ihre Blicke suchend über die Reihen der Versammelten streifen und fanden schnell, wen sie gesucht hatten. Ein wenig schüchtern stand das Mädchen wenige Schritte abseits schaute angespannt zu ihrer Mutter und der Nordfalkin hinüber. „Lass uns mal dahin gehen, ich wette, dass die Gobiansforsterin nicht umsonst so unruhig tut.“ „Nein, das wohl nicht. Weißt Du etwas über sie?“ Lleara-Dhana überlegte kurz: „Wenig nur. Ihr Name ist Revienna und sie ist die Tochter der Kanzlerin Liannen und ihres Gemahls Falkward, der ist Baron zu Tizamsquell, meine ich. Ich glaube, sie ist in Erlschwerd aufgewachsen, im Schatten des Klosters dort. Ich meine gehört zu haben, dass sie inbrünstig an den Efferddiensten dort teilgenommen hat.“ „Würde auf jeden Fall zu diesem Windamulett passen, dass sie trägt.“
Die beiden Ritterinnen musterten das Mädchen, das vielleicht 14 Jahre alt war und ihre Mutter kaum verleugnen konnte. Sie hatte dieselben kastanienbraunen Haare, deren Locken ihr lang auf den Rücken fielen. Sie war eher athletisch und eher klein gewachsen, vielleicht 1,65 Schritt groß. Aber ihre Statur verriet, dass sie noch wachsen würde. Ihre Augen leuchteten in einem warmen grün-braun unter dunklen Brauen hervor und ihr Gesicht war noch etwas rundlich. Sie trug ein einfaches dunkelblaues Kleid, darüber eine elegant geschnittene Weste, die mit Wolfsfell gefüttert war. An ihrem Gürtel hingen nur ein Beutel und ein Essmesser. Jetzt fiel ihr Blick auf die beiden jungen Frauen, die gerade auf sie zukamen und sich leise unterhielten. Revienna senkte den Blick.
„Firun Bi!“ Wesanka lächelte das Mädchen an und führte die Hand im ritterlichen Gruße zum Herzen, was Lleara-Dhana ein Grinsen entlockte, die es ihr gleich getan hatte. „Ja, auch Jahre außerhalb Moosgrunds können diesen Gruß nicht mehr austreiben.“ Revienna nickte den beiden zu: „Die guten Götter zum Gruße, die hohen Damen. Hochwohlgeboren, meinen Glückwunsch zu Eurer Leite.“ „Meinen Dank, Frau von Gobiansforst. Aber stillt unsere Neugier. So, wie Ihr zur Gräfin Balihos, der Falkin des Nordens hinüberblickt, so vermuten wir, dass Eure Mutter gedenkt Euch in die Knappenschaft nach Moosgrund zu geben. Liegen wir da falsch?“ Revienna atmete hörbar angespannt aus. „Ist das so offensichtlich? Ich muss gestehen, ich bin so aufgeregt. Man hat ja so viel über Frau Ardariel gehört ...“ Wesanka und Lleara-Dhana warfen sich einen amüsierten Blick zu. „Und man hat vermutlich nicht übertrieben“, hielt die Ilsurer Baronin lapidar fest. „Aber sorgt Euch nicht zu sehr, Frau Ardariel ist eine gute Schwertmutter. Sie schont sich weit weniger als ihre Knappinnen.“ „Du Witzbold ...“ Wesanka grinste.
Die drei wandten sich um und blickten zu Ardariel Nordfalk hinüber, die ihren Blick mit einem belustigten Lächeln erwiderte und ihnen leicht zunickte. „Das ist unheimlich, sie weiß immer noch ganz genau wo wir sind, Wesanka.“ „Kein Wunder, wir wissen ja auch noch immer ganz genau wo sie ist. Das hat uns mehr als einmal das Leben gerettet, wenn Sturmrufer in unserem Rücken war.“ „Allerdings. Ihr hoher Vater muss diese Gabe auch besessen haben.“ Der Blick der beiden Ritterinnen fiel auf die baldige Knappin, dann grinste Wesanka. „Lasst mich mal einen Vorschlag machen – wenn Ihr den Schwur geleistet habt, dann würde ich Euch gerne das Du anbieten. Dann sind wir ja quasi Schwertschwestern, was meint Ihr? Lleara?“ „Ich bin dabei, Wesanka. Was sagt Ihr, Gobiansforst?“ Das Grinsen der beiden Frauen wirkte ansteckend und Revienna nickte begeistert. „Sehr gerne, hohe Damen, es wäre mir eine absolute Ehre!“ Wesanka wandte kurz den Kopf und sah, dass Ardariel Nordfalk der tobrischen Kanzlerin die Hand bot, in die diese mit einem breiten Grinsen einschlug. „Dann ist das also eine ausgemachte Sache … Revienna. Kann sich ja nur noch um Augenblicke handeln, da dachte ich, ich über schon mal.“
Wesanka trat beiseite und Lleara-Dhana tat es ihr gleich, so dass Ardariel Nordfalk zwischen ihnen hindurch schreiten konnte. „Ihr habt den Schalk doch schon wieder im Nacken sitzen, ihr beiden. Setzt der jungen Dame bloß keine Flausen in den Kopf, ich muss das wieder ausbügeln.“
Dann wandte sich die hochgewachsene Gräfin Balihos der jungen Tobrierin zu und ihr Gesicht wurde ernst. „Eure Mutter und ich sind übereingekommen, dass ich Euch als meine Knappin annehmen werde. Seid Ihr damit aus freiem Willen einverstanden?“ Sichtlich vom selbstsicheren Auftreten der Gräfin eingeschüchtert, senkte Revienna den Blick und nickte stumm.
„Seht mich an und lasst es mich vernehmlich hören, Gobiansforst!“ Revienna blickte in die blitzenden braunen Augen der Gräfin und antwortete: „Nichts wünsche ich mir mehr, Hochwohlgeboren.“ „Gut getan. Dann, Revienna aus dem Hause Gobiansforst, knie nieder.“ Revienna tat, wie ihr geheißen und senkte das Haupt. Ihre Mutter war hinter sie getreten und legte ihre Hand auf die Schulter ihrer Tochter, ein stolzes Lächeln auf dem Antlitz. Ardariel reichte ihren Zweihänder Wesanka, die ihn hoch über die Gräfin und das kniende Mädchen hielt.
„Die Kanzlerin Tobriens, die Baronin von Ilsur und die Ritterin von Korswandt seien unsere Zeuginnen.“ Ardariel zog aus ihrem Schwertgurt einen kostbaren Dolch und sprach weiter. „Vor allen guten Göttern und den Drachen von Alveran. Ich, Ardariel aus dem Hause Nordfalk, die Gräfin Balihos, Baronin Moosgrunds und gegürtete Ritterin nehme Dich, Revienna als meine Knappin an. Ich schwöre bei allen Zwölfen, die Herrin Rondra ihnen voran, dich zu schützen wie mein Eigen, bis du es selbst vermagst und dich alle Tugenden und Fertigkeiten zu lehren, die eine Ritterin bedarf, um die Schwachen zu schützen und dem Bösen zu trotzen: Es seien vorrangig Gerechtigkeit, Mut, Geduld, Barmherzigkeit, Frömmigkeit, Weisheit, Demut, Hoffnung, Selbstbeherrschung, Mäßigkeit, Beständigkeit und Minniglichkeit, so wie es uns die Zwölfeinigkeit gebietet. Du hingegen wirst mir Gehorsam schwören und geloben alles so gut zu lernen, wie du es vermagst.“
Revienna hob den Kopf und blickte die Gräfin an. „Вei allen Zwölfen schwöre ich Euch, als meiner Schwertmutter, Gehorsam und ich gelobe feierlich mich jeder Eurer Lektionen mit voller Hingabe zu stellen.“ Die Falkin des Nordens nickte feierlich und ritzte sich mit dem Dolch ihren Schwurfinger und lies einen Tropfen Blut zu Boden fallen.
„Dann gehorche mir zum ersten Mal. Unser Schwur soll uns binden, bei unserem Blute, das wir in Rondras Namen geben, um zu dienen und zu schützen. Reiche mir die Schwerthand.“ Revienna tat ohne zu zögern, was die Gräfin verlangte, die nun den Schwurfinger ihrer Schwerthand ebenfalls ritzte, bis ein Blutstropfen hervorquoll. Dann zog sie das Mädchen mit einer kräftigen Bewegung auf die Beine. „So sei es, im Namen der Zwölfe! Bezeugt und geschworen. Und nun mein erster Auftrag an meine neue Knappin.“
Revienna blickte die Gräfin erwartungsvoll an, während Wesanka Ardariel Sturmrufer zurückreichte. Sie tauschte einen wissenden Blick mit Lleara-Dhana aus. „Geh und beschaffe Dir einen brauchbaren Dolch, mit dem Essmesser da kannst du nicht mal einen wildgewordenen Bosparaniel verscheuchen.“ Ardariel lachte und warf den Kopf nach hinten.
Die tobrische Kanzlerin Liannen blickte betreten zur Seite, nahm dann lächelnd den Langdolch von ihrem Gürtel und reichte ihn ihrer Tochter. „Das war dann wohl mein Fehler. Nimm dieses treue Stück, damit es dich in den Auenlanden am Pandlaril an mich erinnert und damit du so wehrhaft wirst, wie deine Schwertmutter es von dir wünscht.“ Die Kanzlerin und die Gräfin nickten einander zu und verabschiedeten sich von den drei jungen Frauen, um sich unter die anderen anwesenden Hochadligen zu mischen.
Wesanka und Lleara-Dhana klopften der Gobiansforsterin auf die Schultern. „Gute gemacht, Revienna, dann bist du jetzt also eine von uns. Hab' ich ja gesagt, dass es nicht lange dauern würde.“ Wesanka zwinkerte der frisch gebackenen Knappin zu. Auch Lleara-Dhana grinste: „Wenn die uns dann mal nicht in Bälde die Küken der Falkin nennen werden – au warte, ich kann es schon fast hören.“
Die drei begannen fröhlich zu lachen.
Die Ankunft des neuen Leuenritters
Die Ankunft des neuen Leuenritters
Rondratempel Leuinstolz, Baronie Moosgrund, 10. Ingerimm 1040 BF
Die Dunkelheit war längst hereingebrochen und das Madamal stand schmal an einem beinahe wolkenlosen Himmel. Thargrîn Witaribhel von Moosgrund streckte sich, schloss das Tempelbuch und lächelte, während sie dem Knistern der Feuerschalen lauschte.
Es klopfte leise und der junge Page Radomar steckte den Kopf in ihr Arbeitszimmer. „Euer Hochwürden, just kam ein Bote gelaufen, mit einem Brief, der für Euch bestimmt ist. Der Junge sagte, ein fremdländischer Ritter hätte ihm den übergeben und mit Kupfer bezahlt, dass er noch nie gesehen hätte.“
„Ein fremdländischer Ritter? Wer war denn das und wo hat der Junge den Brief denn in Empfang genommen?“ Thargrîn erhob sich. „Es war der junge Sigbald vom Fuchshorn. Da hat er wohl auch die Nachricht angenommen. Gefragt hat er nicht weiter, aber er meinte, der Ritter wäre ein wahrer Hühne mit grimmigem und entstelltem Gesicht. Ein Hirschgeweih ist wohl Teil seines Wappens. Vielleicht einfach nur Kunde vom Hirschenborner?“ Radomar reichte seiner Schwertschwester mit einem ehrerbietigen Kopfsenken den Brief, der das Siegel der Meisterin des Bundes der Nordsenne zeigte. Thargrîn schüttelte den Kopf. „Wohl kaum, das hier ist von ihrer Eminenz Donnerhall in Donnerbach. Ich würde wetten, dass es uns den Nachfolger der treuen Olginai verkündet.“
Die Schwertschwester brach das Siegel und las die ersten Zeilen, die ein wahrer Meister der Kalligraphie geschrieben hatte. Dann schüttelte sie den Kopf und seufzte. „Der Brief ist doch gar nicht für mich, der ist für Hochwohlgeboren Nordfalk. Wieso ist der in meine Hände gekommen?“ Radomar hob abwehrend die Hände. „Sigbald sagte, der Ritter hätte darauf bestanden, ihn der Schwertschwester in Leuinstolz auszuhändigen – und nur ihr. Er hat ihn mir nur anvertraut, weil er sich nach Eurer letzten Standpauke nicht getraut hat zu klopfen.“ Thargrîn fuhr sich durch die blonden Haare, legte das Schreiben auf dem Lesepult ab und blickte sich um. „Nun denn, ist nicht mehr zu ändern. Eile zum Pallas hinüber und warne Frauwe Ardariel vor, dass ich sie dringend sprechen muss. Und dass das keinen Aufschub duldet.“ Radomar verneigte sich und eilte mit einem „So sei es.“ davon.
Thargrîns Gedanken fingen an zu fliegen. Ein Löwenritter, den der Schwertbund für würdig erachtete mit dem Gut Bragenfelden belehnt zu werden. Das war zu erwarten gewesen. Olginai, die alte Löwenrittfrau dort, war vor einem guten Götterlauf den Walkürja anempfohlen worden. Was mochte das wohl für ein Recke sein? Ob sich vielleicht in Samias Aufzeichnungen etwas dazu fand? Der Gedanke an ihre Freundin und Glaubensschwester versetzte der Geweihten einen Stich, unbewusst fuhr ihre Linke an die Fibel mit dem Löwinnenhaupt, die sie als Tempelvorsteherin auswies. Hatte Samia bereits im Vorfeld bei der Meisterin des Bundes angefragt, was im Falle eines Ablebens der Bragenfelderin geschehen solle? Olginai war im Laufe der letzten beiden Jahre wahrlich hinfällig geworden. Golgaris Ruf war nur eine Frage der Zeit gewesen. Hatte sie womöglich einen Vorschlag nach Donnerbach gesandt? Vielleicht sogar noch vom Heerzug der Herzöge? Dann schob sich noch ein Gedanke in Thargrîns Kopf: Wie würde es Ardariel wohl ergehen, wenn sie dadurch erneut an ihre Gemahlin erinnert wurde? Thargrîn fluchte innerlich. Wieso hatte dieser Fremdländer ihr den Brief zugespielt? Er musste doch wissen, dass er an die Lehnsherrin des Gutes gerichtet war. Sie hätte sich gerne mit Arnôd besprochen, aber der weilte auf dem Grevenstein. Andererseits konnte sie vielleicht ihrer Freundin zur Seite stehen und ihr Trost spenden. Es würde so oder so nicht leichter werden, wenn sie es aufschob. Thargrîn griff nach ihrem Schwertgurt und wappnete sich mit ihrem Namensschwert, bevor sie umsichtig die Kerzen löschte und einen prüfenden Blick auf die Feuerschalen warf. Dann verließ sie den Tempel und eilte durch die Melliadorspforte und hinüber zum Pallas der alten Feste Flaecht-uf-Stên.
Sie traf die Herrin der Moosgrunder Lande im Rittersaal an. Die Schildwache ließ die Schwertschwester mit einem ehrerbietigen und freundlichen Nicken passieren und schloss dann die Tür hinter ihr. Die Gräfin Balihos stand an einem der Fenster und blickte über den Fluss, der von allen menschlichen Sorgen unbeeinflusst träge gen Norden floss, seinem Schicksal im Pandlarin entgegen. Sie wandte sich um, als sie das feine Klirren des Kettenhemdes der Rondrianerin hörte und bedeutete Thargrîn mit einer Geste näher zu kommen, bevor sie sich wieder dem Fenster zuwandte.
Ardariel trug ein tiefschwarzes Kleid, das – ebenfalls in schwarz – mit Walkürja-Flügeln und der Mythraelsrune bestickt war. An ihrem Gürtel war nur ihr vielbenutzter Kettenbrecher zu sehen, sowie der Schlüssel, der sie als uneingeschränkte Burgherrin auswies. Wie so häufig in den letzten Monaten. An ihrer Brust war ebenfalls immer noch die Fibel mit den Golgarisschwingen befestigt. Thargrîn trat behutsam neben die Gräfin und legte ihr die Hand auf die Schulter, während sie dem Blick Ardariels auf den Pandlaril folgte, in dem sich das Madamal und das Funkeln der Sterne spiegelten. Schweigend standen die beiden Frauen eine Weile nur da, doch dann wandte Ardariel den Kopf: „Ich höre, dass du mich dringend sprechen willst, dann heraus damit. Witaribhel, du musst dich im Übrigen nicht ankündigen lassen, weißt du. Wenn es etwas gibt, dann kommst du einfach zu mir.“
Thargrîn nickte: „Das weiß ich wohl, aber das hier ist wohl offiziell, da dachte ich, ich beschreite den richtigen Weg.“ Die Baronin Moosgrunds wandte sich der Rondrageweihten zu und hob fragend die Augenbrauen. Thargrîn reichte der Baronin den Brief. „Ich habe das Sigel gebrochen, weil der Ritter den Brief ausdrücklich mir überbringen ließ. Aber ich hörte auf zu lesen, als ich sah, dass du direkt angesprochen warst.“ Ardariels Augenbrauen zogen sich zusammen. „Sorge dich nicht darum, allerdings scheinen wir es dann mit einem Unruhestifter zu tun zu haben.“ Sie begann die Zeilen zu lesen, ließ dann den Brief sinken und reichte ihn der Schwertschwester zurück. „Ein Herr Grothan von Estven wird uns geschickt, den Lehnseid zu leisten. Er stammt aus dem Hohen Norden und hat bei Paavi gekämpft, um die Eishexe und ihre Schergen zu Fall zu bringen. Eminenz Donnerhall folgt anscheinend vollumfänglich der Empfehlung der Geweihten aus dem Norburger Tempel, die wohl die Taten des Herrn Grothan überprüft haben und ihn vorgeschlagen haben.“ „Das klingt einigermaßen eigentümlich ...“, Thargîn las den Brief der Sennmeisterin des Nordens nun zu Gänze. „Andererseits macht es schon Sinn, denn wenn mich meine Kenntnisse nicht täuschen gibt es im Hohen Norden keine nennenswerten Tempel.“
Ardariel straffte sich und schüttelte die Traurigkeit, die sie umgeben hatte ab. „Wo ist der Herr Löwenritter denn untergekommen?“ „So wie ich das sehe, ist er im Fuchshorn abgestiegen, denn Sigbald hat das Schreiben überbracht.“ „Gut, ich schicke Granhild, dass sie ihn einbestellt. In zwei mal zwei Tagen, am 14., soll er seinen Lehnseid leisten, wie es sich vor den Göttern geziemt und wir sehen weiter. Wir werden doch wohl Frauwe Aldare nicht enttäuschen wollen. Vermutlich wäre es aber klug, wenn du Radomar mitschicken könntest. Irgendwie habe ich das Gefühl, als dass ich noch meine helle Freude an diesem Ritter haben werde.“
***
Burg Moosgrund, Baronie Moosgrund, 14. Ingerimm 1040 BF
Thargrîn schmunzelte, als sie sich im Rittersaal Moosgrunds umblickte. Der Saal war prachtvoll anzuschauen. Die Banner leuchteten, allen voran die der Nordfalks und der Baronie Moosgrund. Aber auch die Wappen der lehnspflichtigen Ritter und Junker erstrahlten, sie konnte die Banner Grevensteins, Moorlands und Grünharschs sehen, dazu die Wappen der Familien Salmbinger, Moosacher und Auenwacht. Auch die etwas kleineren der Familien Aubinger, Dornschild und Feyring. Der Platz, an dem für gewöhnlich das Banner Bragenfeldens hing, war jedoch leer. Allerdings leuchtete stolz das Banner von Leuinstolz an der Wand, was Thargrîn besonders freute, ebenso wie das der Stadt Moosgrund. Es hatten sich auch Mitglieder aller Ritterfamilien versammelt. Als die Schwertschwester eintrat, kam der Junker Arnôd Pratos von Grevenstein auf sie zu und begrüßte sie mit einer Umarmung. Etwas weiter in den Saal hinein standen die Ritterin Fenia Salmbinger von Moorland und der Ritter Welmar Moosacher von Grünharsch beieinander und plauderten. Yann Musker, Bürgermeister der Stadt, war ebenfalls anwesend und unterhielt sich gerade mit dem Erzmagister Goldquell, dem hiesigen Geweihten der Hesinde. Zwei Frauen, die Magierin Scanlail ai Andara und die Norbardin Kitinkaja Frantisek standen ebenfalls dort und schienen gerade die Stirn zu runzeln. Thargîn schritt zur Efferdgeweihten Livia Sandtröm hinüber, die sie mit einem warmen Lächeln begrüßte. Dann fiel ihr Blick auf Ardariel, die auf dem Baronsthron Moosgrunds saß. Die Balihor Gräfin trug ihre geschwärzte Garether Platte und darüber einen edlen weißen Rock mit ihrem Wappen. Ihre Lockenmähne hatte sie mit weißem Hirschleder zu einem strengen Zopf gebändigt. Hinter dem Thron hielt sich die Knappin der Baronin bereit, Revienna von Gobiansforst. Ardariel winkte Thargrîn zu sich, während auch Arnôd, der als ihr Vogt fungierte, neben ihren Thron trat.
Dann war es soweit, der Grenzreiter Wölflin kündigte den Hohen Herren Grothan Ysgar von Estven an, samt seinem Gefolge. Der Mann war beeindruckend. Beinahe zwei Schritt groß und von kräftiger Statur. Er trug einen langen Schuppenpanzer über wildledernen Beinlingen und schweren Stiefeln. Sein schwerer, fellbesetzter Kapuzenumhang zeigte auf der linken Seite sein Wappen, ein schwarzes Hirschgeweih vor Hermelin. Er trug die Halskette aus polierten Silberscheiben mit dem Löwinnenhaupt, die ihn als Löwenritter auswies und einen beinernen Löwinnenkopfanhänger. Sein braunes Haar trug er offen und lang, das linke Auge war gänzlich weiß und trüb, wohingegen das Rechte braun unter dichten Augenbrauen blitzte. Seine Nase war dick und rote Punkte bedeckten die hageren Wangen. Neben einem einfachen Schwert trug er eine mächtige Doppelblattaxt. Einen Schritt hinter ihm gingen eine kleine, schlanke Frau, die ein Kind auf den Armen hielt und ein Junge in einem Gambeson. Ungerührt und voller Selbstvertrauen schritt der Löwenritter nach vorn und verneigte tief sich von Thargrîn. Erstaunlich ruhig verfolgte Ardariel das Schauspiel, wohingegen Arnôd hörbar knurrte.
Die Stimme des Ritters war angenehm tief und gleichmütig, als er zu sprechen anhob. „Rondra befohlen, Hochwürden. Hier bin ich, auf Geheiß Ihrer Eminenz Aldare Donnerhall von Donnerbach, um mein Gut zu übernehmen, ganz wie es Rondra gefällt.“
Thargrîn blickte auf die Gräfin, die anfing mit den Fingern der Rechten auf die Lehne des Throns zu klopfen. „Respekt und Anstand habt Ihr noch zu lernen, Herr von Estven.“ Der Ritter blickte die Schwertschwester erstaunt an. „Wie das?“ „Wie es den guten Götter gefällig ist, werdet Ihr zunächst die Herrin dieser Halle begrüßen, die Falkin des Nordens! Sie allein entscheidet, ob Ihr überhaupt würdig seid, ihr Lehnsmann zu werden. Denn so ist im Reiche Rauls die Herrschaft gefügt.“ „Die Kriegskönigin hat mich erhöht und ihre Diener mich für würdig befunden, was soll also noch die Anerkennung einer trägen Adligen mir bedeuten?“ Trotzig blickte der Ritter zu Thargrîn hinauf. Die befiel eine Ahnung, was geschehen würde, als das leise Trommeln auf der Thronlehne abrupt stoppte.
Die Baronin war in einem Lidschlag aufgesprungen, hatte ihren mächtigen Zweihänder, der neben ihr gelehnt hatte, ergriffen und war auf den Ritter zugesprungen. Mit einem hellen Klirren traf Stumrufer die Streitaxt des Ritters und warf sie weit in den Saal hinein, wo sie laut polternd zu Boden fiel. Ardariel nutzte den Schwung und das ganze Gewicht ihrer Rüstung aus und rammte Grothan die Schulter in die Brust, so dass er rücklinks zu Boden fiel. Mit einem eleganten Bogen zog sie Sturmrufer wieder nach vorn und legte dem Ritter aus dem Hohen Norden die Klinge an den Hals, während sie ihren Fuß auf seine Rechte stellte.
„Ihr habt mich irgendwie auf dem falschen Fuß erwischt, Estven.“ Die Stimme der Nordfalkin klang trügerisch ruhig. Thargrîn wusste nur zu genau, dass Ardariel innerlich vor Wut kochte. „Ich kann es nicht leiden, wenn man mich nicht mit dem mir gebührenden Respekt behandelt. Wir machen es jetzt folgendermaßen: Ihr steht gleich auf, geht zurück zur Tür und kommt wieder herein. Und wenn mir dann gefällt, was ich sehe und höre, dann sehen wir weiter. Gefällt es mir nicht, fordere ich Euch zum Duell und jage Euch danach von meinem Land. Zurück in die Wildnis aus der Ihr zu stammen scheint. Habe ich mich da klar und unmissverständlich ausgedrückt?“ Mit schmerzverzerrtem Gesicht, nickte der Ritter und hustete schwer. Ardariel nickte knapp, ließ ab von ihm und schritt seelenruhig zum Thron zurück, lehnte Sturmrufer wieder daran und setzte sich, als wäre nichts geschehen.
Die Begleiter des Ritter blickten völlig überrascht und auch leicht verängstigt auf die Baronin, die Fenia gerade bedeutete, Grothan seine Axt auszuhändigen. Die Salmbingerin wog die schwere Hiebwaffe in den Händen, während sie den Ritter musterte, der nur schwerlich auf die Füße kam. „So wie Ihr Euch gebt, habt Ihr die hier sicher mehr als einmal auf den Kopf bekommen“, raunte sie dem Fremden kopfschüttelnd zu, während sie ihm die Axt in die Hand drückte. „Glaubt mir, mit solch einem Verhalten macht Ihr hier Euch keine Freunde.“
Grothan hustete erneut, wischte sich mit der Rechten etwas Blut aus dem Mund, senkte dann das Haupt und schritt mit seinem Gefolge zur Tür zurück. Dann straffte er sich, wandte sich um und schritt wieder von den Thron Moosgrunds. Diesmal beugte er das Knie vor Ardariel, blickte die Nordfalkin aber aufrecht an. „Hochgeboren, ich bin der Leuenritter Grothan Ysger von Estven aus dem Herzogtum Paavi. Es begleiten mich meine Gemahlin Svea von Fjohrinswohld, mit meinem Erstgeborenen Dermot, und mein Knappe Wolforn von Lettamund.“ Wieder hustete der Ritter. „Es hat den Dienern der göttlichen Leuin gefallen, mich zum Löwenritter zu ernennen und die Sennmeisterin des Nordens scheint zu wollen, dass ich mit einem Lehen versehen werde, auf dass meine gebeutelte Familie zur Ruhe kommen kann und neue Wurzeln schlägt. Verzeiht meine Ungebührlichkeit, ich vergaß, dass Ihr auch Schildmaid des Ordens vom Heiligen Blute seid, mithin ebenfalls von der Donnernden Huld erfüllt. Ich komme, um Euch meine Axt und meine Erfahrungen anzubieten.“
Ardariel blickte zu Arnôd Pratos hinüber, dessen Gesicht undurchschaubar blieb, allein seine sturmgrauen Augen blitzten abwägend. Die Baronin Moosgrunds nickte. „Sehr viel besser. Dann seid willkommen unter meinem Dach, Ritter Grothan“, sie blickte zur Gemahlin und dem Knappen hinüber, „Und ihr ebenfalls, Anbefohlene des Ritters, Frau Svea und Knappe Wolforn. Als Herrin der Moosgrunder Lande erreichte mich die Bitte Ihrer Eminenz, Euch, Ritter Grothan, als Edlen von Bragenfelden einzusetzen. Grundsätzlich bin ich stets gerne geneigt, Bitten der Sennmeisterin des Nordens zu gewähren. Aber Obacht. Ich werde Euch das jetzt nur ein einziges Mal fragen, also hört mir genau zu: Seid Ihr willens und bereit, mir, als Herrin Moosgrunds, den Lehnseid zu leisten und mir die Treue zu schwören, die mir, durch den Codex Raulis verbrieft, zukommt? Bevor Ihr antwortet. Prüft Euer Herz, denn ich werde keinen halbgaren Eid anerkennen und auch keinen Widerwillen in dieser Angelegenheit.“ Ardariel blickte den Ritter eindringlich an und gab ihm eine Weile Bedenkzeit. Dann erhob sie erneut die Stimme: „Herr Grothan, wollt Ihr mir aus freien Stücken und von ganzem Herzen den Lehnseid leisten?“ Der Blick des Ritters hatte fest auf der Baronin gelegen, offenbar war er von der Willensstärke der Falkin des Nordens beeindruckt. Nun schweifte sein Blick kurz zur Schwertschwester von Leuinstolz hinüber, der er knapp zunickte. Dann blickte er wieder Ardariel an und sein gutes Auge zeigte einen weicheren Ausdruck. „Ja, ich will und ich werde Euch meine unverbrüchliche Treue in allem Weltlichen schwören. Ihr seid die Herrin und ich will euer Gefolgsmann sein.“
Wieder nickte die Baronin Moosgrunds und warf einen kurzen Blick zu Arnôd hinüber, der ebenfalls nickte, ganz leicht nur.
„Dann lasst uns jetzt den Eid leisten. Hochwürden, gebt uns bitte die Ehre.“ Thargrîn nickte, und auf ihre Geste hin trugen zwei Novizen eine kunstvoll verzierte Glutschale in den Rittersaal. Radomar reichte Thargrîn den Rhyton, der mit Hagedocher Zider gefüllt war. Die Schwertschwester zog Whitaribel, ihr Namensschwert und zog einen Kreis um die Feuerschale. Dann sprenkelte sie ein Trankopfer auf die Flammen und das abgezirkelte Areal. Schweigend reichte sie ihrem Novizen den Rhython und nahm die Opferdolch entgegen. Hob ihn empor, dass jeder ihn sehen konnte, und bedeutete Ardariel und Grothan, in den Kreis zu treten. „Im Namen der Eidherrin, der Donnerkönigin und des himmlischen Richters gebiete ich Euch, Grothan Ysger aus dem Hause Estven, vor allen Göttern, Ardariel aus dem Hause Nordfalk den Lehnseid zu schwören. Er sei bezeugt und solle nie gebrochen werden.“ Grothan nickte und kniete auf ein Zeichen der Schwertschwester Leuinstolz' nieder. Auf ein Zeichen streckte er die Schwurhand aus und die Schwertschwester ritzte sie mit dem Opferdolch, sodass ein Blutstropfen in die Glutschale fiel und dort zischend verdampfte. Der Ritter senkte kurz das Haupt und blickte dann Ardariel an, die hocherhoben dastand, die Hände auf die Parierstange Sturmrufers gelegt, der mit der Spitze voran vor ihr stand. „Im Namen der Herrin Rondra, ihres Bruders Praios und der göttlichen Travia sowie der anderen unsterblichen Neun. Im Name der Ehre, der Demut und der göttlichen Kraft, im Namen der Treue und des Gesetzes schwöre ich, Grothan Ysger von Estven Euch, Ardariel aus dem Hause Nordfalk, die den Gefolgseid als Eurer Vasall! Mein Rat und meine Klinge sollen allezeit die Euren sein. Ich stelle mein ganzes weltliches Handeln in euren Dienst.“ Ardariel nahm die Schwurhand von der Parierstange und reichte sie Thargrîn. Die ritzte die Schwurfinger der Baronin, sodass ebenfalls ein Blutstropfen zischend in die Glutschale fiel und mit hellem Rauch verdampfte. Die Baronin hob den mächtigen Zweihänder, sodass seine Klinge mit der Breitseite über Grothan in der Luft ruhte. „Ich, Ardariel Nordfalk, Tochter des Avon, von der Kaiserin Rohaja und der Herzogin Walpurga Willen Baronin von Moosgrund und Gräfin von Baliho, durch den Segen der Sturmherrin Schildmaid des Ordens vom Heiligen Blute, nehme Euren Eid an, Ritter Grothan. Im Namen des Lichtbringers, der göttlichen Leuin und der Herdmutter gelobe ich Euch meine Aufrichtigkeit, meinen Schutz, und dass ich Euch nichts abverlangen werde, das dem Willen der zwölfeinigen Götter zuwider läuft. Als Dank für Euren Eid und als mein Pfand ernenne ich Euch hiermit, im Namen des Hauses Nordfalk, des Herzogtums Weiden und des Raulschen Reiches zum Edlen von Bragenfelden.“ Mit den letzten Worten senkte die Baronin Sturmrufer auf die Schultern des Ritters. „Erhebt Euch nun und werdet erkannt, Wohlgeboren!“
Trotz seines ersten Auftritts jubelten die versammelten Ritter dem Nordlander zu als er sich erhob, vielleicht etwas verhaltener als üblich und mit durchaus skeptischen Blicken, aber niemand im Saal versagte Grothan den nötigen Respekt. Seine Gemahlin war an ihn herangetreten und küsste den Hünen auf die Wange, was ganz offensichtlich seine Anspannung milderte. Er verneigte sich vor der Gräfin und murmelte eine weitere Entschuldigung, die Ardariel mit einem schmalen Lächeln annahm.
Arnôd Pratos trat auf den Ritter zu. „Gut, Wohlgeboren, jetzt, wo Ihr nicht wieder vergessen werdet, wer in diesen Landen herrscht, kurz zum weiteren Prozedere. Vorweg, ich bin Arnôd Pratos von Grevenstein, Junker der gleichnamigen Feste und vor allem der Vogt der Baronin, wenn sie verhindert ist. Was heißt, dass Ihr Euch besser schon mal an mich gewöhnt, denn Frauwe Ardariel ist oftmals unterwegs, wenn Baliho, die Herzogin oder gar die Kaiserin ruft.“ Arnôd stieß den Schaft seines altersdunklen Speers auf den Boden, um seine Worte zu bekräftigen.
„Nun denn, Ihr und Eure Familie verbringt die heutige Nacht auf Burg Moosgrund, so wie es Eurem Stand gebührt. Die Kammer ist bereits gerichtet und wartet auf Euch. Lasst Euren Knappen Euer Hab und Gut aus dem Fuchsbau holen. Revienna, die Knappin der Frauwe Ardariel wird ihm zur Hand gehen und Hilfe vom Gesinde dazu holen, so nötig.“ Die Stimme des Grevensteiners klang gleichmütig und er beobachtete genau, wie die Reaktionen der Familie aus dem Norden waren. Svea, die Gemahlin des Estveners nickte dankbar, und Wolforn wurde ein kleines wenig rot, als Revienna von Gobiansforst, Ardariels Knappin, ihn kurzerhand am Arm packte und beiseite zog, die Anweisung Arnôds auszuführen. Grothan straffte sich und nickte dem Junker von Grevenstein zu. „Sehr gut, Hochgeboren, so wird es geschehen. Was noch?“
Arnôds Lippen verzogen sich zu einem wölfischen Grinsen. „Das ist unser Mann, gut. Witaribhel wird in einer Weile einen Rondradienst halten, um Euch unter Frauwe Ardariels Schwertern zu begrüßen und den Segen der Sturmherrin für Eure Vorhaben zu erbitten. Das sollte Euch zupass kommen. Richtig?“ Ein Leuchten trat in die Augen des neugekürten Edlen. „Das erfreut mein Herz in der Tat, Herr Arnôd. Ausgezeichnet, ein gutes Omen.“ Der Pratos nickte. „Heute Abend gibt es ein Festmahl zu Euren Ehren. Eine gute Gelegenheit für Euch von Euren Taten und Fährnissen zu berichten, damit wir Euch kennenlernen. Wir wollen Euch mit Geschichten aus Bragenfelden unterhalten und uns Euer Vorgängerin, der trefflichen Olginai erinnern, die aus gutem Grund Immertreu gerufen wurde. So lernt Ihr schon die ersten Dinge über Euer Gut.“ „Aye, das ist wohlgetan und der Donnernden würdig!“
„Morgen dann bleiben die ersten Amtsgeschäfte zu tun. Ihr erhaltet Eure Ernennungsurkunde. Und wir nehmen Maß für Euren Edlenreif, der Euer Standessymbol sein wird. Darüber hinaus gilt es dann zu packen und alles vorzubereiten für Euren Aufbruch am Tag darauf.“ Arnôd hob die Hand und ein weiterer Ritter trat hinzu. Sehnig und hochgewachsen, hatte er Ähnlichkeit mit Ardariel, obwohl er dunkelblondes Haar hatte und sein Gesicht markanter wirkte. Über seinem Herzen prangte das Wappen der Nordfalks, wie Grothan bemerkte, als er die Hand zum Gruße dorthin führte. „Meine Glückwünsche, Wohlgeboren. Willkommen in den Moosgrunder Landen. Gebe die Unbesiegte, dass Ihr uns lange erhalten bleibt und ebenfalls siegreich in Euren Schlachten seid.“ „Rondra auch mit Euch, meinen Dank.“ Arnôd ergriff wieder das Wort. „Das ist Junker Augrimmar ...“ „Ritter Augrimmar, reicht. Hier kommt es nur auf die Leite an, alter Freund.“ Arnôd nickte mit hochgezogener Braue und sprach unbeeindruckt weiter. „... er wird Euch durch die Moosgrunder Lande nach Theabrandt zu Eurer Motte Bragenfelden geleiten. Der Ritter Welmar wird ebenfalls mit Euch reisen und Euch Gastung auf seiner Burg Grünharsch zukommen lassen, die auf Eurem Weg liegt. Von dort geht es über den Grevenstein, wo Euch mein Kastellan Yarling empfangen wird, schließlich in Eure neue Heimat. Das alles gibt Euch Gelegenheit einen ersten Eindruck von den Landen der Frauwe Ardariel zu erhalten und Eure Nachbarn kennenzulernen.“ Der Vogt Moosgrunds blickte Grothan und seine Gemahlin aufmerksam an. „Das wäre es von meiner Seite, habt Ihr Fragen?“ Svea blickte Grothan an und der nickte kaum merklich, sodass die Fjohrinswoldenerin das Wort ergriff. „Was erwartet uns in Bragenfelden, Herr Arnôd? Finden wir dort Gesinde? Oder ist die Motte seit der Abberufung der Frau Olginai verwaist und wir müssen zunächst alles einrichten?“
Wieder flog das wölfische Lächeln über Arnôds Gesicht. „Gute Fragen, Frau Svea. Ich war gespannt, ob die kommen würden. Macht Euch keine Sorgen. Zum einen liegt zu Füßen der Motte das Dorf Theabrandt, das ganz sicher nicht verlassen ist. Aber auch Bragenfelden selbst ist besetzt. Der Burgmann, Ritter Eschgar aus der Familie Feyring, erwartet Euch bereits und hat sicherlich alles für Eure Ankunft vorbereitet. Wenn Ihr etwas Besonderes für Eure Ankunft braucht, dann lasst ihm eine Nachricht zukommen.“ Nun räusperte sich Grothan dann doch und blickte dem Vogt fest in die Augen. Die sturmgrauen Augen Arnôds erwiderten den Blick seelenruhig. „Ein Opferbock wäre nur angemessen. Wie ich Ihre Eminenz verstanden habe, ist es meine Aufgabe dort den Dienst für die Göttin zu halten.“ Arnôd nickte. „So ist es in der Tat gefügt. Ihr als Löwenritter tragt dafür die Verantwortung. Und es scheint mir ein wohldurchdachter Wunsch zu sein. Ich rate Euch daher, im Laufe des Abends ihre Hochwürden Witaribhel nach einem solchen Tier zu fragen. Denn Leuinstolz, unser Tempel, hat auf dem diesjährigen Widdermarkt bereits die besten Opfertiere ausgewählt.“ „Sehr gut, dann werde ich die Schwertschwester darum bitten.“
„Als dann, mischt Euch unter die Leute und lernt einige derjenigen kennen, die ab jetzt gemeinsam mit Euch streiten. Oder macht Euch frisch, um Euch auf den Göttinnendienst vorzubereiten, ganz wie es Euch beliebt. Wir sehen uns dann später.“ Arnôd nickte dem Edlen zu, dann dessen Gemahlin, wandte sich um und ließ die Familie ihren Moment genießen. Augrimmar folgte ihm und bald standen die beiden etwas abseits beieinander. Ardariel gesellte sich nur wenige Augenblicke später zu ihnen.
„Was haltet ihr von ihm?“, die Nordfalkin blickte ihre beiden Freunde neugierig an. Augrimmar grinste: „Vor allem hat er deinen Schubs wirklich gebraucht. Ab davon glaube ich, der ist schon ganz in Ordnung. Aber es wird Zeit brauchen, bis er sich an unsere Gepflogenheiten gewöhnt hat. Wollen wir hoffen, dass er bis dahin keine Fehde mit Elana von Mallaith vom Zaun gebrochen hat.“ „Ich werde ihn vermutlich dennoch besser den Herzoglichen Landfrieden ins Gedächtnis rufen. Obgleich ich annehme, dass Heruwyn von Eichenwacht ihm eher eine Hilfe sein wird.“ Arnôd richtete seinen Blick erneut auf die kleine Familie, die einträchtig beieinander stand. „Aber um deine Frage zu beantworten, Blutsschwester, ich glaube, dass Grothan keine Menschenmengen schätzt. Aber wenn es ihm gelingt, die Theabrandter nicht in der ersten Woche gehörig zu verprellen, dann bin ich sicher, wird er eine schlagkräftige Landwehr für dich aufstellen können.“ Ardariel ließ ihnen Blick dem Arnôds folgen. „Möge die Göttin es so fügen. Und wir werden uns leibhaftig davon überzeugen, wenn wir die Bragenfeldener mit dem Edlenreif in einem Mond auf ihrer Motte besuchen werden.“ Die Baronin Moosgrunds lächelte, als die beiden Ritter ihr unisono zustimmen. „Genau das werden wir!“
Später Besuch
Später Besuch
Trallop, Ende Praios 1043 BF.
Geschwind und beinahe lautlos glitt das reich verzierte Holzboot den Pandlaril hinauf – zu schnell für ein einfaches Ruderboot. Seine Gestalt legte nahe, dass es elfischer Fertigung war. Unbemerkt machte die elegante Barke am Altentralloper Flusshafen fest und eine schlanke Gestalt mit einem grün-grauen Kapuzenumhang sprang behände an Land. „Es wird nicht lange dauern, Alwalir. Und dann müssen wir zurückeilen.“ Eine melodische Stimme gab die Antwort: „Aî, wir werden schneller sein als jede alwaselja.“
***
Die alltägliche Emsigkeit auf der Bärenburg war zum Erliegen gekommen, der Abend spät geworden und Lichter erhellten allenthalben die winzigen Fenster und Scharten der alten Feste. Feiner Nebel hatte sich über das Weidener Land gelegt und Wolken hingen tief über dem Neunaugensee.
In der Herzogenhalle hatte sich die Herrscherin der Weidenlande auf dem Bärenthron zurückgelehnt und hob ein Krüglein Bärentod an die Lippen. Endlich war das Tagesgeschäft vollbracht und sie war allein, sie hatte auch das Gesinde hinausgeschickt. Walpurga ordnete ihre Gedanken und blickte sich dabei sinnierend im großen Saal um.
Da vernahm sie ein energisches Klopfen an der Tür – und sie ahnte, dass sie würde warten müssen, um ihren Gedanken ungestört nachhängen zu können. Die beiden Bärenritter vor der Tür wussten, dass sie heute nicht mehr gestört werden wollte. Walpurga fragte sich kurz, für wen wohl sie diesen deutlichen Hinweis einfach so in den Wind schlagen würden. „Einerlei, bringen wir es hinter uns ... Herein“, rief die Herzogin und straffte ihre Haltung.
Die Tür wurde aufgestoßen und eine schlanke, hochgewachsene Gestalt trat ein. Schritt mit forschem Gang auf den Thron zu und kniete schließlich vor ihr nieder. Sie schlug die Kapuze ihres graugrünen Umhangs zurück und das Licht der Fackeln ließ das lange, Walpurga wohlbekannte, Haar schimmern wie fließendes Kupfer. „Rondra zum Gruße, Hoheit. Ich weiß, dass Euer Tag lang war und ich werde ihn nicht über Gebühr ausdehnen, doch ich habe Euch etwas Wichtiges zu sagen.“ Die Gräfin Balihos blickte Walpurga forschend an und neigte dann ihr Haupt. Walpurga fiel auf, dass die Nordfalkin entgegen ihrer sonstigen Art weder gerüstet war, noch ihren Zweihänder mit sich führte. „Ardariel, Rondra zum Gruße! Los steh’ auf. Was treibst Du hier? Hast Du nicht gerade Rat halten lassen? Willst Du Bericht erstatten? Das kann doch warten.“
Geschmeidig erhob sich die Nordfalkin. „Bericht? Nein, das können andere machen. Linnart wird sicherlich bald vom Rat Kunde bringen. Ich habe Euch etwas überaus Wichtiges anzukündigen. Etwas, das weitreichende Konsequenzen haben wird – und glaubt mir, das fällt mir beileibe nicht leicht.“ Ardariel holte tief Luft.
Walpurga erhob sich, griff nach zwei Hörnern mit Bier und trat auf die Gräfin Balihos zu. Sie reichte Ardariel eines davon, „Grevensteiner aus der gestrigen Lieferung. Vielleicht erhellt das dein Gemüt etwas. Prost!“ Ardariel nahm das Horn, lächelte ein wenig und trank mit einem Nicken in Richtung der Herrin der Weidenlande. Walpurga erkannte, dass das Lächeln nicht die Augen der Gräfin erreichte. Ohnehin wirkte Ardariel müde und in sich gekehrt. Dabei hätte Walpurga eher erwartet, dass sie gereizt sein würde, wie es ihre eigentliche Natur war. „Nun denn, Baliho. Was ist so wichtig und so geheim, dass es nicht eine Audienz abwarten konnte?“
Die Gräfin nahm einen weiteren Schluck und straffte sich. „Herrin, ich will keine Ausflüchte machen und keine Rechtfertigung suchen. Aber Ihr müsst vorbereitet sein und sollt es von mir selbst hören, bevor die Dinge ihren Lauf nehmen. Vermutlich seid Ihr die letzte, der ich das erklären muss, zu viel haben wir gemeinsam, im Schild unseres Lebens. Einerlei, ich zögere es nur hinaus. Herrin, Ihr wisst, dass mein Schwert und mein Leben Euch gehören, es immer taten und auch immer tun werden. Immer bin ich Eurem Befehl gefolgt, so wie es sich geziemt. So werde ich, mit der Segenshuld der Sturmherrin, auch den Aarenstein für Euch zurückgewinnen. Doch das wird der letzte Ritt unter Balihos silbernem Rad für mich sein.“
Walpurga blickte die Gräfin völlig überrumpelt an. „Was redest du da? Die Donnergleiche wird dir den Sieg schenken und du wirst nach Räuharsch zurückkehren!“ Ernst schüttelte die Nordfalkin den Kopf. „Das meinte ich nicht, Herrin. Wenn es der Unbezwungenen gefällt, dann wird die Graftschaft Baliho nach diesem Schwertzug endlich befriedet sein. Und dann ist das Wort meines hohen Vaters erfüllt, Grafenrecht wird wieder in den Landen am Pandlaril herrschen. Und ich bin dann meinem Erbe gerecht geworden, habe das Versprechen des Hauses Nordfalk gehalten. Und dann muss ich mich dem widmen, was wir immer getan haben: Der Wacht wider den Schwarzpelz und dem Halten des Schildes über jene, die uns anbefohlen sind. Ich werde nicht das verlachte Kindermädchen von verwöhnten Brokatträgern sein!“
Walpurga sah Ardariel tief in die Augen und die Herzogin Weidens sah darin vieles, eine Trauer, die der ihren glich, Müdigkeit, Sehnsucht und die Gewissheit, das Richtige zu tun.
„Ardariel, was in der guten Götter Namen ist nur in dich gefahren? Du redest ja wirres Zeug. Beruhige dich und komm zu Besinnung!“
Ardariel legte den Kopf zur Seite. „Selten war ich so sicher, Herrin. Aber noch ist der Aarenstein nicht Euer, noch ist die Zeit nicht gekommen. Ihr, Herrin, wisst aber jetzt, wie es steht, und könnt Euch wappnen, so wie es der Herzogin Weidens gebührt. Lasst Euch Rat geben und seid vorbereitet, wenn die Zeit reif ist. Von ganzem Herzen danke ich Euch, für alles, Herrin. Ihr werdet von mir hören. Der Segen der guten Götter zu Alveran sei alle Zeit mit Euch!“ Erneut beugte die Gräfin Balihos das Knie und wandte sich dann um, eilte hinaus – floh beinahe, noch ehe die verdutzte Herzogin etwas Rechtes erwidern konnte.
***
Walpurga hatte sich auf den Bärenthron fallen lassen und sann über das nach, was Balihos Gräfin ihr gerade gesagt hatte. Sie konnte sich keinen rechten Sinn daraus machen. Lautlos war eine Gestalt durch den Gang aus Ingrams Löwenturm an sie herangetreten: „Diese Entwicklung gefällt mir nicht, gar nicht!“ „Gwynna, hör auf mir immer in die Gedanken zu reden, das ist ja nicht zum Aushalten!“ „Irgendjemand muss es machen, sonst kreist du immer wieder um dasselbe.“ „Du hast gehört, was die Nordfalkin sagte?“ „Eher habe ich es gespürt, das ist eine äußerst unerfreuliche Wendung der Dinge. Und es ist bei Weitem nicht deutlich, wie unerfreulich genau sie werden wird. Fatas Seiten sind störrisch in diesem Fall.“ „Was soll denn das bitte heißen?“ „Das heißt, dass du und dein Kanzler euch dringend beraten solltet. Das heißt, dass ihr einen kleinen Schritt zu weit gegangen seid und wir jetzt abwarten müssen, ob der Steg, den ihr beschritten habt, halten wird, ob er bricht oder ob er gar die auf ihm Stehenden in einen kalten Abgrund reißen wird.“ „Es musste aber etwas geschehen, die Balihoer wurden keck und ungeduldig.“ „Das sind sie immer, diese eitlen und rechthaberischen Traditionalisten. Du hättest dich seinerzeit fragen sollen, wie du den Lauf des Geschicks anstößt. Aber jetzt ist es getan und das Weitere wird geschehen. Allein fürchte ich, dass es größere Umwälzungen mit sich bringen wird. Und leider, leider gefallen die mir nicht, denn sie stören meine Pläne. Das ist äußerst bedauerlich.“ „Vielleicht wäre es dann sinnvoll gewesen, mich in deine Pläne einzuweihen, du alte Ränkeschmiedin!“ „Vielleicht. Wiewohl ich das zu bezweifeln wage, denn noch reichen diese besonderen nicht über den Moosgrunder Tann hinaus. Lass mich dir einen Rat geben: Warte nicht, sondern hole dir Rat bei Eberwulf. Säume keinen Tag, sondern breite dich vor. Ich werde in der Zwischenzeit selbst Rat suchen und halten, ich befürchte, dass wir hierbei noch ganz anderen Beistand brauchen werden. Doch das lass meine Sorge sein.“
Ein junges Paar für den "Herd der Großen Mutter"
Ein junges Paar für den Herd der Großen Mutter
Urkenfurt, Baronie Urkentrutz, Anfang Tsa 1046 BF
Zufrieden blickte Lyssandra auf den neuen Traviatempel „Herd der Großen Mutter“ in Urkenfurt. Den in die Jahre gekommenen, kleinen Fachwerkbau am Dorfplatz von Urkenfurt hatte die Baronin ebenso wie zwei der Hörigenhütten in der Nachbarschaft des Tempels vor einem Götterlauf abreißen lassen. Während des Sommers, den die Baronin auf Reisen ins Liebliche Feld und nach Omlad verbracht hatte, waren dann die Bauarbeiten am neuen Traviatempel von einem eigens beauftragten Baumeister mit zwei Gesellen und in vielen Fronstunden der Dörfler vorangetrieben worden. Der neue Bau war in Fachwerktechnik auf einem Steinfundament ausgeführt worden. Der durch den Abriss der Hütten gewonnene Platz wurde für ein größeres Bethaus sowie ein angrenzendes Gästebauwerk genutzt. Dort sollten die Pilger und Reisenden Quartier finden, die im Tempel der Gütigen Mutter um Gastung und Schlafplatz anfragten.
An geeigneter Stelle wurden zwei neue Hütten für die beiden Eigenhörigenfamilien errichtet, die dem Tempel Platz machen mussten. Mit großer Freude war im Hauptort der Baronie Urkentrutz die Nachricht aufgenommen worden, dass die Baronin ein neues „Heiliges Paar“ für den verwaisten Traviatempel gewinnen konnte. Auf Vermittlung von Dythlinde von Birselburg hatte sich im Ordenshaus des Dreischwesternordens in Teichenberg eine junge Familie gefunden, die sich auf die neue Aufgabe freuten. Walje Domara Mühlendank, die als Geweihte der Großen Mutter im Traviatempel von Teichenberg ausgebildet worden war, hatte man Lyssandra als begeisterte Geflügelzüchterin beschrieben. Ihr Gemahl Firutin, der als Waisenkind in das Dreischwesternkloster kam, begleitete sie ebenso wie die gemeinsamen drei Kinder Tsafrieda, Travinian und Mascha. Aus Schwester Walje würde nun Mutter Walje werden.
Gespannt erwartete die Baronin von Urkentrutz die Ankunft der kleinen Familie. Eigentlich hatten das Heilige Paar schon im Herbst nach Urkenfurt ziehen wollen, doch die Geburt des jüngsten Kindes hatte die Abreise verzögert. Als sich jedoch Anfang Tsa eine ungewöhnlich ifirngefällig angenehme Phase des Winters einstellte, nutzten Walje und Firutin die milde Witterung, um endlich in ihr neues Wirkungsgebiet zu ziehen. Schon bevor sie und die wartenden Dörfler den Ochsenkarren, der die Habseligkeiten der Götterdiener nach Urkenfurt transportierte, über die Brücke holpern hörten, konnte man das Geschnatter der heiligen Gänse venehmen. Die passionierte Geflügelzüchterin Walje Domara Mühlendank brachte ihre eigenen Gänse mit. Das lautstarke Schnattern aus den Käfigen, die neben den Kindern und einigen Kisten auf dem Wagen standen, wurde von den Gänsen des Traviatempels im Dorf beantwortet. Nachdem Mutter Marinad, vor ihrem tragischen Tod, den Tempel in Dorngrund, in der Baronie Herzoglich Dornstein übernommen hatte und der „Herd der Großen Mutter“ damit verwaist war, wurden die Tempelgänse von einigen traviafrommen Dorffamilien versorgt. Lyssandra war gespannt, wie sich Neuankömmlinge und Alteingesessene verstehen würden, und damit waren nicht nur die Gänse gemeint.
Lerja Waltenbald, die Frau des Dorfkrämers, hatte mit einigen Dörflerfamilien für den Empfang des Heiligen Paares den neuen Tempel geschmückt und im Speisesaal einige Urkentrutzer Spezialitäten zur Begrüßung der Götterdiener aufgetischt. Auf dem langen, aus einfachen Brettern gezimmerten Tisch fanden sich ein Bingenbacher Räucherschinken, Hollergrunder Blutbrot aus Emmer und dem Saft roter Rüben, Seelen aus Einkorn, Waldhonig aus Farnbrunn und diverse Marmeladen und Fruchtmuse, sowie Obstsäfte und -weine. Dazu ein Töpfchen mit Einbeerenmarmelade. Über der Feuerstelle hing ein großer Kupferkessel in dem eine heiße Suppe auf die ausgekühlten Reisenden wartete.
Das hölzerne Gebälk des Bethauses, dessen Front auf den Dorfplatz blickte, war mit Tannenzweigen und bunten Schleifen geschmückt. Dazu hingen überall kleine, aus Holz geschnitzte Gänse und Gänsefedern.
Der grimmige Firun blies seinen eisigen Atem durch die Gassen Urkenfurts und hauchte die frisch gefallenen Eiskristalle mal hierhin, mal dahin. Die Dörfler hatten sich warm eingepackt und warteten neugierig auf das Heilige Paar. Der Ochse, der den einfachen Wagen zog, wurde von einem Mann geführt. Er war mittelgroß und trug eine zweifarbige Gugel, Rot und Grün, mit einer langen Zandelbinde, die er wie einen Schal um den Hals gewickelt hatte und die mit auffälligen roten und grünen Zaddeln gesäumt war. Der Reisemantel war aus verschiedenfarbiger Wolle gewalkt worden. Bunt und farbenfroh. Fröhliche, strahlende Augen blickten den Wartenden aus dem Rund der Gugel entgegen. An seiner Seite lief eine großgewachsene, kräftig wirkende Frau im Ornat einer Traivageweihten. Ein grüner Wollumhang umspielte ihre Knöchel, das Haar hatte sie unter einer gleichfarbigen Haube verborgen. Sie trug ein kleines Kind auf dem Arm. Zwei weitere Kinder, saßen auf dem Wagen. Neugier sprach aus ihren pausbäckigen Gesichtern, die ebenfalls von Hauben umrahmt wurden.
Der Mann hob die Linke und winkte den Dörflern zu. Der Bann war gebrochen. Die Urkenfurter bildeten eine Gasse, um die Ankommenden hindurchzulassen. Walje, die Traviageweihte, spendete den Urkenfurtern lächelnd den Segen der Eidmutter. Schließlich kam der Ochsenwagen auf dem Dorfplatz zum Stehen. Neben der Baronin standen ihre Tochter Minerva, das Dienstritterpaar Oberon und Danje von Uhlredder und der Dorfvorsteher Arnald Rußkehrer.
Lyssandra von Finsterborn trat nach vorne und hielt der Traviageweihten in einer freundschaftlichen Geste beide Hände hin. Walje gab ihre kleine Tochter an ihren Mann ab und erwiderte die Begrüßungsgeste. Dabei neigte sie leicht den Kopf.
„Den Segen der Friedenstifterin für Euch, Hochgeboren!“
„Seid gegrüßt, Mutter Walje! Wir sind hocherfreut Euch in Urkenfurt willkommen heißen zu dürfen. Euch, Euren Gemahl und Eure lieben Kinder! Endlich ist der „Herd der Großen Mutter“ nicht mehr verwaist!“
Walje lächelte und drehte sich zu ihrem Mann und den Kindern um. „Darf ich vorstellen? Mein Gemahl, Firutin, und meine Kinder. Die Jüngste, auf Firutins Arm, ist Mascha und die beiden auf dem Wagen sind Tsafieda und Travinian. Wir möchten uns für die herzliche Aufnahme bedanken!“
Und dann wurde angepackt. Einige Urkentrutzer lösten sich aus den Reihen. Allen voran der Dorfvorsteher Irenald Dreifuß und seine beinahe erwachsenen Zwillingssöhne. Zügig entluden sie, gemeinsam mit Firutin den Wagen. Die Gänse wurden zu den bereits vorhandenen Tempelgänsen gelassen, was ein heilloses Durcheinandergeflatter und Geschnatter verursachte. Draußen hingegen begann sich Walje mit den Urkenfurtern zu unterhalten. Eine Frau, die selbst einen Säugling auf dem Arm trug, versicherte der Geweihten, wie froh man sei, endlich wieder eine Tempelhüterin im „Haus der Großen Mutter“ zu haben. Sie erzählte bereitwillig von sich und stellte der freundlich lächelnden Walje die Umstehenden vor. Mit Sicherheit konnte die Traviadienerin sich nicht sofort alle Namen merken, aber sie nickte und erkundigte sich sogleich, was die ihr Vorgestellten für Berufe hatten oder welche Aufgaben sie in der Dorfgemeinschaft erfüllten.
Als schließlich Firutin mit den tatkräftigen Helfern zurückkam, konnte die Ankunft des neuen Heiligen Paares gefeiert werden. Die Baronin erhob das Wort vor der auf dem Dorfplatz versammelten Menge. Sie führte aus wie lang der Traviatempel verwaist gewesen war, wie sehr der Dorfgemeinschaft ein Heiliges Paar gefehlt hatte und wie dankbar man war, dass sich die junge Familie gefunden hatte, um dem Tempel wieder Leben einzuhauchen. Dann fragte sie Mutter Walje, wann sie die Weihung des neuen Tempels vornehmen wollte. Schließlich gedachte die Finsterbornerin aus den Nachbarbaronien ihre Bekannten und Freunde einzuladen, sowie dem reisenden Bruder Domarion, der bisher das „Haus der Großen Mutter“ zumindest zeitweise besucht hatte und das greise heilige Paar aus Urken nebst ihrem Novizen Liutgar zu diesem Festtag einzuladen.
Die Geweihte der Gütigen Hüterin richtete ihren Blick zunächst auf die Dörfler, dann sah sie Lyssandra in die Augen. „Ich nehme an, dass die Urkenfurter es bevorzugen werden, wenn sie die Bethalle des neuen Tempels bald mit ihren Opfergaben und Gesängen füllen könnten. Der kommende Mond ist der Ewig Jungen geweiht und bietet sich somit für die Einweihung eines neuen Tempelbaus hervorragend an. Firutin und ich werden allerding noch ein wenig brauchen uns wohnlich einzurichten und auch die Bethalle in unserem Sinne zu verschönern. Ihr müsst wissen, dass mein Gemahl eine ausgesprochen künstlerische Ader hat. Er wuchs im Haus des Dreischwesternordens auf, in dem auch ich mein Noviziat und die Weihe erfuhr. In der Gemeinschaft der drei Schwestern segnete ihn die Ewig Wandelbare mit ihrer Gunst und so wurde ein ausgezeichneter Künstler aus Firutin. Gerne möchte er nun dem „Haus der Großen Mutter“ die ein oder andere Verschönerung zuteilwerden lassen. Ich denke, wenn wir einen Tag gegen Ende des Tsamondes aussuchen, sollte das für die Vorbereitungen reichen.“
Die Urkentrutzer Baronin nickte zufrieden. Das sollte ihr genug Zeit geben, die Einladungen zu verschicken. Sie bat Mutter Walje nun den aufgetischten Speisen den Segen Travias zu spenden und eröffnete dann die Feier.
Fröhlich feierte die Dorfgemeinschaft bis es den meisten zu kühl wurde. Dennoch blieben einige noch lang im Speisesaal des neuen Traviatempels sitzen, sodass das Heilige Paar erst spät in die Federn kam.