Ein junges Paar für den Herd der Großen Mutter

Urkenfurt, Baronie Urkentrutz, Anfang Tsa 1046 BF

Zufrieden blickte Lyssandra auf den neuen Traviatempel „Herd der Großen Mutter“ in Urkenfurt. Den in die Jahre gekommenen, kleinen Fachwerkbau am Dorfplatz von Urkenfurt hatte die Baronin ebenso wie zwei der Hörigenhütten in der Nachbarschaft des Tempels vor einem Götterlauf abreißen lassen. Während des Sommers, den die Baronin auf Reisen ins Liebliche Feld und nach Omlad verbracht hatte, waren dann die Bauarbeiten am neuen Traviatempel von einem eigens beauftragten Baumeister mit zwei Gesellen und in vielen Fronstunden der Dörfler vorangetrieben worden. Der neue Bau war in Fachwerktechnik auf einem Steinfundament ausgeführt worden. Der durch den Abriss der Hütten gewonnene Platz wurde für ein größeres Bethaus sowie ein angrenzendes Gästebauwerk genutzt. Dort sollten die Pilger und Reisenden Quartier finden, die im Tempel der Gütigen Mutter um Gastung und Schlafplatz anfragten.
An geeigneter Stelle wurden zwei neue Hütten für die beiden Eigenhörigenfamilien errichtet, die dem Tempel Platz machen mussten. Mit großer Freude war im Hauptort der Baronie Urkentrutz die Nachricht aufgenommen worden, dass die Baronin ein neues „Heiliges Paar“ für den verwaisten Traviatempel gewinnen konnte. Auf Vermittlung von Dythlinde von Birselburg hatte sich im Ordenshaus des Dreischwesternordens in Teichenberg eine junge Familie gefunden, die sich auf die neue Aufgabe freuten. Walje Domara Mühlendank, die als Geweihte der Großen Mutter im Traviatempel von Teichenberg ausgebildet worden war, hatte man Lyssandra als begeisterte Geflügelzüchterin beschrieben. Ihr Gemahl Firutin, der als Waisenkind in das Dreischwesternkloster kam, begleitete sie ebenso wie die gemeinsamen drei Kinder Tsafrieda, Travinian und Mascha. Aus Schwester Walje würde nun Mutter Walje werden. 

Gespannt erwartete die Baronin von Urkentrutz die Ankunft der kleinen Familie. Eigentlich hatten das Heilige Paar schon im Herbst nach Urkenfurt ziehen wollen, doch die Geburt des jüngsten Kindes hatte die Abreise verzögert. Als sich jedoch Anfang Tsa eine ungewöhnlich ifirngefällig angenehme Phase des Winters einstellte, nutzten Walje und Firutin die milde Witterung, um endlich in ihr neues Wirkungsgebiet zu ziehen. Schon bevor sie und die wartenden Dörfler den Ochsenkarren, der die Habseligkeiten der Götterdiener nach Urkenfurt transportierte, über die Brücke holpern hörten, konnte man das Geschnatter der heiligen Gänse venehmen. Die passionierte Geflügelzüchterin Walje Domara Mühlendank brachte ihre eigenen Gänse mit. Das lautstarke Schnattern aus den Käfigen, die neben den Kindern und einigen Kisten auf dem Wagen standen, wurde von den Gänsen des Traviatempels im Dorf beantwortet. Nachdem Mutter Marinad, vor ihrem tragischen Tod, den Tempel in Dorngrund, in der Baronie Herzoglich Dornstein übernommen hatte und der „Herd der Großen Mutter“ damit verwaist war, wurden die Tempelgänse von einigen traviafrommen Dorffamilien versorgt. Lyssandra war gespannt, wie sich Neuankömmlinge und Alteingesessene verstehen würden, und damit waren nicht nur die Gänse gemeint.

Lerja Waltenbald, die Frau des Dorfkrämers, hatte mit einigen Dörflerfamilien für den Empfang des Heiligen Paares den neuen Tempel geschmückt und im Speisesaal einige Urkentrutzer Spezialitäten zur Begrüßung der Götterdiener aufgetischt. Auf dem langen, aus einfachen Brettern gezimmerten Tisch fanden sich ein Bingenbacher Räucherschinken, Hollergrunder Blutbrot aus Emmer und dem Saft roter Rüben, Seelen aus Einkorn, Waldhonig aus Farnbrunn und diverse Marmeladen und Fruchtmuse, sowie Obstsäfte und -weine. Dazu ein Töpfchen mit Einbeerenmarmelade. Über der Feuerstelle hing ein großer Kupferkessel in dem eine heiße Suppe auf die ausgekühlten Reisenden wartete.
Das hölzerne Gebälk des Bethauses, dessen Front auf den Dorfplatz blickte, war mit Tannenzweigen und bunten Schleifen geschmückt. Dazu hingen überall kleine, aus Holz geschnitzte Gänse und Gänsefedern.

Der grimmige Firun blies seinen eisigen Atem durch die Gassen Urkenfurts und hauchte die frisch gefallenen Eiskristalle mal hierhin, mal dahin. Die Dörfler hatten sich warm eingepackt und warteten neugierig auf das Heilige Paar. Der Ochse, der den einfachen Wagen zog, wurde von einem Mann geführt. Er war mittelgroß und trug eine zweifarbige Gugel, Rot und Grün, mit einer langen Zandelbinde, die er wie einen Schal um den Hals gewickelt hatte und die mit auffälligen roten und grünen Zaddeln gesäumt war. Der Reisemantel war aus verschiedenfarbiger Wolle gewalkt worden. Bunt und farbenfroh. Fröhliche, strahlende Augen blickten den Wartenden aus dem Rund der Gugel entgegen. An seiner Seite lief eine großgewachsene, kräftig wirkende Frau im Ornat einer Traivageweihten. Ein grüner Wollumhang umspielte ihre Knöchel, das Haar hatte sie unter einer gleichfarbigen Haube verborgen. Sie trug ein kleines Kind auf dem Arm. Zwei weitere Kinder, saßen auf dem Wagen. Neugier sprach aus ihren pausbäckigen Gesichtern, die ebenfalls von Hauben umrahmt wurden.

Der Mann hob die Linke und winkte den Dörflern zu. Der Bann war gebrochen. Die Urkenfurter bildeten eine Gasse, um die Ankommenden hindurchzulassen. Walje, die Traviageweihte, spendete den Urkenfurtern lächelnd den Segen der Eidmutter. Schließlich kam der Ochsenwagen auf dem Dorfplatz zum Stehen. Neben der Baronin standen ihre Tochter Minerva, das Dienstritterpaar Oberon und Danje von Uhlredder und der Dorfvorsteher Arnald Rußkehrer.

Lyssandra von Finsterborn trat nach vorne und hielt der Traviageweihten in einer freundschaftlichen Geste beide Hände hin. Walje gab ihre kleine Tochter an ihren Mann ab und erwiderte die Begrüßungsgeste. Dabei neigte sie leicht den Kopf.
„Den Segen der Friedenstifterin für Euch, Hochgeboren!“

„Seid gegrüßt, Mutter Walje! Wir sind hocherfreut Euch in Urkenfurt willkommen heißen zu dürfen. Euch, Euren Gemahl und Eure lieben Kinder! Endlich ist der „Herd der Großen Mutter“ nicht mehr verwaist!“

Walje lächelte und drehte sich zu ihrem Mann und den Kindern um. „Darf ich vorstellen? Mein Gemahl, Firutin, und meine Kinder. Die Jüngste, auf Firutins Arm, ist Mascha und die beiden auf dem Wagen sind Tsafieda und Travinian. Wir möchten uns für die herzliche Aufnahme bedanken!“

Und dann wurde angepackt. Einige Urkentrutzer lösten sich aus den Reihen. Allen voran der Dorfvorsteher Irenald Dreifuß und seine beinahe erwachsenen Zwillingssöhne. Zügig entluden sie, gemeinsam mit Firutin den Wagen. Die Gänse wurden zu den bereits vorhandenen Tempelgänsen gelassen, was ein heilloses Durcheinandergeflatter und Geschnatter verursachte. Draußen hingegen begann sich Walje mit den Urkenfurtern zu unterhalten. Eine Frau, die selbst einen Säugling auf dem Arm trug, versicherte der Geweihten, wie froh man sei, endlich wieder eine Tempelhüterin im „Haus der Großen Mutter“ zu haben. Sie erzählte bereitwillig von sich und stellte der freundlich lächelnden Walje die Umstehenden vor. Mit Sicherheit konnte die Traviadienerin sich nicht sofort alle Namen merken, aber sie nickte und erkundigte sich sogleich, was die ihr Vorgestellten für Berufe hatten oder welche Aufgaben sie in der Dorfgemeinschaft erfüllten.

Als schließlich Firutin mit den tatkräftigen Helfern zurückkam, konnte die Ankunft des neuen Heiligen Paares gefeiert werden. Die Baronin erhob das Wort vor der auf dem Dorfplatz versammelten Menge. Sie führte aus wie lang der Traviatempel verwaist gewesen war, wie sehr der Dorfgemeinschaft ein Heiliges Paar gefehlt hatte und wie dankbar man war, dass sich die junge Familie gefunden hatte, um dem Tempel wieder Leben einzuhauchen. Dann fragte sie Mutter Walje, wann sie die Weihung des neuen Tempels vornehmen wollte. Schließlich gedachte die Finsterbornerin aus den Nachbarbaronien ihre Bekannten und Freunde einzuladen, sowie dem reisenden Bruder Domarion, der bisher das „Haus der Großen Mutter“ zumindest zeitweise besucht hatte und das greise heilige Paar aus Urken nebst ihrem Novizen Liutgar zu diesem Festtag einzuladen.

Die Geweihte der Gütigen Hüterin richtete ihren Blick zunächst auf die Dörfler, dann sah sie Lyssandra in die Augen. „Ich nehme an, dass die Urkenfurter es bevorzugen werden, wenn sie die Bethalle des neuen Tempels bald mit ihren Opfergaben und Gesängen füllen könnten. Der kommende Mond ist der Ewig Jungen geweiht und bietet sich somit für die Einweihung eines neuen Tempelbaus hervorragend an. Firutin und ich werden allerding noch ein wenig brauchen uns wohnlich einzurichten und auch die Bethalle in unserem Sinne zu verschönern. Ihr müsst wissen, dass mein Gemahl eine ausgesprochen künstlerische Ader hat. Er wuchs im Haus des Dreischwesternordens auf, in dem auch ich mein Noviziat und die Weihe erfuhr. In der Gemeinschaft der drei Schwestern segnete ihn die Ewig Wandelbare mit ihrer Gunst und so wurde ein ausgezeichneter Künstler aus Firutin. Gerne möchte er nun dem „Haus der Großen Mutter“ die ein oder andere Verschönerung zuteilwerden lassen. Ich denke, wenn wir einen Tag gegen Ende des Tsamondes aussuchen, sollte das für die Vorbereitungen reichen.“

Die Urkentrutzer Baronin nickte zufrieden. Das sollte ihr genug Zeit geben, die Einladungen zu verschicken. Sie bat Mutter Walje nun den aufgetischten Speisen den Segen Travias zu spenden und eröffnete dann die Feier.
Fröhlich feierte die Dorfgemeinschaft bis es den meisten zu kühl wurde. Dennoch blieben einige noch lang im Speisesaal des neuen Traviatempels sitzen, sodass das Heilige Paar erst spät in die Federn kam.