Wie Blätter im Wind
Boronkloster Etiliengrund, Baronie Schneehag, Hesinde 1045

An diesem späten Hesindevormittag saß Coris Etiliane Fesslin lange im Obergeschoß des sogenannten Etilianerturms, direkt unter dem Dach und blickte durch eine der Luken in der hölzernen Wand der Turmkammer. Sie beobachtete den Flug der Finsterkammdohlen, die auch an diesem kühlen Wintermorgen ihre Bahnen um die Felsvorsprünge des Rabenfelsens und das Kloster auf dem Hochplateau zogen. Die Spitzen des Finsterkamms, zu dessen Vorbergen der Rabensattel zählte, hatten weiße Mützen bekommen. Der grimme Firun hatte seine Schneelast dort bereits abgeladen. Vermutlich würden die Bergspitzen den ganzen Winter über weiß bleiben. Auch auf dem Rabensattel hatte es bereits geschneit, doch vor wenigen Tagen hatte Tauwetter eingesetzt und nun beschränkten sich die weißen Flecken auf ein paar wenige Reste, die sich im Schatten der Felsspitzen und in den tiefen Ritzen erhalten hatten. Wie lange Ifirn wohl zum Kurzbesuch in der Baronie Schneehag bleiben würde? Vermutlich nicht lange. Schon bald würde ihr unbarmherziger Vater, der Alte vom Berge, wieder die Regentschaft übernehmen und mit Schnee, Eis und frostigen Nächten zum Boronkoster zurückkehren. Schon blies der frische Augrimmer wieder kühle Luft in die Heldentrutz.

Der versonnene Blick der Etilianerin fiel auf einen Apfelbaum, der zu den wenigen Obstbäumen gehörte, die im äußeren Mauerring der Klosteranlage standen und die Bewohner Etiliengrunds mit Äpfeln versorgten. Zwei letzte, einsame Blätter schaukelten wild im kräftigen Wind, der das Plateau des Rabensattels umwehte. Graubraun waren sie und knittrig, keine Spur von Leben mehr in ihnen und doch wehrten sie sich mit letzter Kraft, dem Ruf des Unabwendbaren zu folgen, loszulassen, sich vom Wind fortwehen zu lassen. Beinahe wie die alte Frau, der Coris am Vortag die Beichte abgenommen und den Segen des Ewigen gespendet hatte. Auch ihre Haut war graubraun und faltig gewesen. Ihr ausgemergelter Körper hatte keine Kraft mehr gehabt. Die Dienerin Golgaris musste ihr den Becher an die Lippen setzten, als sie um einen Schluck Wasser gebeten hatte. Und doch hatte auch diese Alte sich dagegen gewehrt, den Herrn der letzten Dinge willkommen zu heißen. Wie die beiden welken Blätter hatte sie sich an das letzte Bisschen Leben geklammert, das ihr verblieben war, das der Unausweichliche ihr gelassen hatte. Mit unendlicher Geduld hatte Coris der alten Frau zugehört, den Geschichten ihres armseligen Lebens gelauscht und sie sanft aufgefordert Frieden zu schließen mit den Dingen, die sie nicht mehr ändern können würde. Sie hatte Trost gespendet und Mut gemacht, den letzten Schritt zu gehen, ihr Herz zu öffnen für den Seelenvogel Golgari, der bereits auf den Zweigen der Bäume an der Grundstücksgrenze ihrer Kate saß und auf den letzten Atemzug der Alten wartete. Schließlich hatte sie die Frau gesalbt, ein Gebet gesprochen und sie gesegnet.

Die Dienerin Golgaris wusste, dass es nicht mehr lange dauern würde, bis die Nachricht aus Schneekrumme kam, dass der Herr des Todes die alte Liesbetha zu sich gerufen hatte. Sie hatte den Raben gesehen, wusste um die unerbittliche Wahrheit, von der sein Erscheinen zeugte.

Im Gegensatz dazu hatte der Flug der Finsterkammdohlen selbst zu dieser Jahreszeit etwas Leichtes, Spielerisches. Das scheinbar mühelose Auf und Ab, die Spiralen und Kreise, Sturzflüge und steile Kurven waren immer gleich und doch stets neu. Coris wurde nicht müde den schwarzgrauen Vögeln zuzusehen. Ganz so wie wenn sie am Kaminfeuer saß und den züngelnden Flammen zusah. Ein immer gleiches und doch stets neues Spektakel, das Spiel der Natur.

Mit einem waghalsigen Bogen stieß eine der Finsterkammdohlen hinab, zwischen den kahlen Apfelbäumen hindurch, deren blattlose Äste wie die skelettierten Arme eines vielarmigen Dämons wirkten. Sich im Flug um die eigene Körperachse drehend beschrieb der Flug der Dohle eine konkave Kurve. Dann trieb sich der Vogel mit wenigen Flügelschlägen wieder hinauf zu seinem Schwarm. Coris folgte zunächst seinem Flug, doch als sie zurückblickte, zu dem Apfelbaum mit dessen Beobachtung sie schon so viel Zeit verbracht hatte, bemerkte sie die Veränderung. Von den beiden welken Blättern, die zitternd im Wind getanzt hatten, hatte eines sich gelöst. Fortgetragen vom frischen Augrimmer erhob sich das graubraune, dürre Blatt noch einmal in Richtung der Baumkrone. Es schien als versuchte es sich festzuhalten, noch eine Gnadenfrist zu erwirken, sich an anderer Stelle festzuklammern, um ja nicht den Weg alles Derischen gehen zu müssen. Doch unbarmherzig, wie der Dunkle Vater, führte der eisige Nordwind das welke Blatt mit sich fort. Coris seufzte, sie würde nun ihr Pferd satteln lassen und dann nach Schneekrumme reiten, um dem Wunsch der Verstorbenen zu entsprechen, der Familie in der Trauer beistehen und mit ihr gemeinsam die Bestattung vorzubereiten.